Giulia Tonelli ist Primaballerina am Opernhaus Zürich. Als Tänzerin Kinder zu bekommen ist heute zwar nicht mehr unüblich. Trotzdem ist es ein Balanceakt, das Tanzen mit der Familie zu vereinen. Das zeigt der Dokumentarfilm «Becoming Giulia», der sie dabei begleitet, wie sie nach dem ersten Mutterschaftsurlaub ihren Weg zurück in die Elite-Ballettkompanie sucht und findet. Oft fühlt sich die gebürtige Italienerin hin- und hergerissen zwischen ihren beiden grossen Leidenschaften, dem Ballett und ihren Kindern. Manchmal eilt sie sogar zwischen den Proben nach Hause, um eine halbe Stunde mit ihren beiden Söhnen zu verbringen. Im Gespräch berichtet sie, warum ihre Wahl sie trotz aller Anstrengung glücklich macht.
Frau Tonelli, wie organisiert man als Primaballerina den Familienalltag?
Das ist eine Herausforderung. Mein Mann und ich teilen uns die Aufgaben zu gleichen Teilen auf. Er ist Ingenieur und für seinen Job auch immer viel gereist. Dennoch verbleibt immer ein grösserer Teil der Aufgaben bei ihm. Oft ist er am Samstag, wenn ich eine Aufführung habe, den ganzen Tag mit unseren beiden Söhnen allein. Wenn er eine Aufführung von mir sehen möchte, brauchen wir einen Babysitter. Ich liebe meinen Job, aber auch meine Kinder. Manchmal renne ich zwischen den Proben nach Hause, um eine halbe Stunde mit ihnen verbringen zu können. Meine Mutter sagt mir dann, dass das zu viel und zu anstrengend für mich ist. Wenn ich bei der Arbeit sei, dann solle ich auch voll und ganz dort sein. Aber für mich ist das eine bewusste Entscheidung. Man bezahlt einfach einen Preis, wenn man als Mutter Beruf und Karriere vereinbaren möchte.
Wie sind Sie aufgewachsen? Waren beide Eltern berufstätig?
Ja. Das hat mich sicherlich geprägt: Zu sehen, dass die Mutter arbeitet, dass sie eigene Interessen hat und Dingen nachgeht, die ihr Spass machen und die nichts mit ihrer Rolle als Mama zu tun haben. So was prägt kleine Mädchen, denn sie sehen, was möglich ist und weckt Ambitionen. Vielleicht wäre ich heute nicht da, wo ich bin, wenn meine Mutter mir das nicht so vorgelebt hätte. Meine Eltern waren politisch interessiert, abends gingen sie oft zu Veranstaltungen. Dann war ein Babysitter bei uns oder mein älterer Bruder passte einfach auf mich auf. Was besonders an meinen Eltern ist, ist die Unterstützung, die ich immer erfahren habe. Ich habe mich erst mit 17 Jahren entschlossen, professionelle Balletttänzerin zu werden. Die Entscheidung fällt man normalerweise viel früher, es war also klar, dass es hart für mich werden würde. Aber meine Eltern haben nie an mir gezweifelt und mir das Vertrauen geschenkt, einen Weg zu gehen, den sie nicht kannten. Beide hatten Universitätsabschlüsse und keine kreativen Berufe.
Ist es besonders schwierig, nach einer Geburt in einen körperlich so herausfordernden Job wie den einer Ballerina zurückzukehren?
Für mich war immer klar: Ich möchte Mutter werden, während ich noch professionell tanze. Als Ballerina weisst du, dass deine Karriere irgendwann aus Altersgründen endet. Das ist ein grosser Umbruch im Leben, denn man wächst mit dem Ballett, mit dem Tanzen auf, seit man ein Kind ist. Es ist ein grosser Teil deiner Persönlichkeit von jungen Jahren an. Das Karriereende musst du emotional verarbeiten. Ich hätte mir nicht vorstellen können, gleichzeitig diesen Identitätswandel zu bewältigen und in meine neue Rolle als Mutter hineinzuwachsen. Daher wollte ich vorher meine Familie gründen. Für mich hat es sehr gut funktioniert. Ich wusste genau, dass ich schnell wieder an den Proben teilnehmen und auf der Bühne stehen will. Ich wollte unbedingt zurückkommen und jedem beweisen, dass ich gerade jetzt eine noch bessere Tänzerin werden konnte. Das hat funktioniert – beim ersten und auch beim zweiten Kind.
Fühlen Sie sich manchmal zwischen Ihren beiden grossen Passionen, dem Tanzen und der Familie hin- und hergerissen?
Ja. Nach der Geburt meines zweiten Sohnes bin ich auch wieder früh auf die Bühne zurückgekehrt und habe nur eine kleine Pause gemacht. Ich bin ehrgeizig und treibe mich dann selbst an. Aber beim zweiten Mal habe ich definitiv mehr Zweifel verspürt als zuvor. Mein älterer Sohn beginnt jetzt mit dem Kindergarten, der jüngere ist mit einer Nanny zuhause. Es ist für mich sehr hart, mein Kind der Kita anzuvertrauen. Er geht erst mal auch nicht an allen Wochentagen dort hin. Ich möchte, dass er sich daran gewöhnen kann. Auch den Kleinen mit der Nanny zurückzulassen ist herausfordernd für mich. Ich verspüre manchmal ein starkes Schuldgefühl, wenn ich sie zurücklasse. Ich fühle mich wie gefangen zwischen zwei wundervollen Rollen: der der Mutter und der der Tänzerin. Ich will beide bestmöglich ausfüllen. Wenn ich bei den Proben bin, höre ich dann aber doch oft diese Mini-Teufelsstimme, die mir sagt: Eigentlich solltest Du bei Deinen Kindern sein. Ich schäme mich nicht, offen zu sagen, dass ich in dieser Phase alles, was ich tue mit einem Schuldgefühl mache. Ich weiss, dass man eine wunderbare Verbindung zu seinen Kindern haben kann, auch, wenn man sie nicht den ganzen Tag sieht. Mein Vater reiste auch viel. Trotzdem hatten wir immer ein sehr gutes Verhältnis. Aber es nagt an mir, zu wissen, dass ich nicht die «perfekte Mutter» bin.
Was macht die «perfekte Mutter» aus Ihrer Sicht aus?
Das ist eine gute Frage. Die, die den besten Apfelkuchen backt? Die, die mit ihren Kindern die kreativsten Sachen bastelt? Ich kann das gar nicht genau sagen, ob es überhaupt eine perfekte Mutter gibt. Wenn ich mit den Kindern im Park oder auf dem Spielplatz bin und den anderen Müttern erzähle, dass ich Vollzeit arbeite, erhalte ich oft verwunderte Reaktionen. Aber macht mich das zu einer guten oder schlechten Mutter? Ganz sicher nicht. Ich sage ehrlich, dass ich meine Kinder vermisse, wenn ich arbeite. Vielleicht hat sich dieses Gefühl nach dem zweiten Kind noch verstärkt, weil ich weiss: Ich werde kein drittes Kind haben und jetzt ist die letzte Chance diese wundervolle Zeit, in der sie aufwachsen, unmittelbar mitzuerleben. Das ist einfach ein Gefühl, dass ich immer mit mir herumtrage.
Was würde Müttern die Berufstätigkeit erleichtern?
Es ist sehr wichtig, dass es gute Betreuungsmöglichkeiten gibt. Diese müssen bezahlbar sein. Unsere Kosten für die Kita und die Nanny sind enorm. Sie übersteigen mein Gehalt. Und ich denke, dass wir als Gesellschaft darüber sprechen sollten, ob 16 Wochen Mutterschutz nach der Geburt nicht zu wenig sind. In Finnland oder Deutschland kann man über ein Jahr bei seinen Kindern bleiben. Ich sage nicht, dass dies die beste Lösung ist. Denn das erscheint mir eine lange Zeit. Aber vielleicht kann man einen Mittelweg finden. Vor allem sollte das nicht nur die Frauen betreffen. Auch die Väter sollten Möglichkeiten haben, sich Zeit für die Kinder zu nehmen. Wir müssen als Gesellschaft überlegen, was getan werden kann, damit Eltern kleiner Kinder ihrem Job gerecht werden können. Es gibt Frauen, die ihren Job wirklich lieben, aber es so empfinden, dass sie einfach nicht die Möglichkeit haben, ihn mit der Familie zu vereinen.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft Ihrer Kinder?
Mir ist es sehr wichtig, Werte zu haben und diese an meine Kinder weiterzugeben. Ich hoffe, dass diese eine Basis für sie sind, später genau der Mensch zu werden, der sie sein wollen. Und ich hoffe, dass ich ihnen ein Vorbild dafür bin, einen Beruf zu finden und auszuüben, der sie wirklich erfüllt und den sie nicht nur wegen des Geldes machen. Ziele zu haben, die man aus echter Leidenschaft und wahrer Neugier verfolgt, ist wunderbar. Und hilft einem auch dabei, schwere Entscheidungen zu treffen.
«Was macht die perfekte Mutter aus? Ist es die, die den besten Apfelkuchen backt? Die, die mit ihren Kindern die kreativsten Sachen bastelt? Ich kann das gar nicht genau sagen, ob es überhaupt eine perfekte Mutter gibt.»