Kathrin Bertschy ist seit über 15 Jahren in der Schweizer Politik aktiv. Zuerst als Berner Stadträtin, seit 2011 als Nationalrätin Grünliberale Bern. Die Ökonomin setzt sich für die grossen politischen Themen unserer Zeit ein: Europäische Zusammenarbeit, Klimaschutz, Nachhaltigkeit oder gleiche Rechte für alle. Bezahlbare Kinderbetreuung sieht die zweifache Mutter als Schlüsselinfrastruktur für die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz.
Frau Bertschy, warum tut sich die Schweiz trotz vieler Fortschritte trotzdem noch immer so schwer mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf?
Das hat mit vielen Faktoren zu tun: Unser politisches System der direkten Demokratie mit einem von Männern dominierten Milizparlament, das ja nur darum funktioniert, weil ihnen Frauen den Rücken freihalten; mit dem Föderalismus, was bedeutet, dass 26 Mal auf kantonaler Ebene über familienergänzende Massnahmen gestritten werden muss; mit dem spät eingeführten Frauenstimmrecht, was im Vergleich zu anderen Ländern für die politische Partizipation der Frauen einen Rückstand von 50 Jahre bedeutet; mit der Prosperität der Nachkriegsära, was es anders als in vielen Ländern in der Schweiz erlaubte, dass nur ein Elternteil arbeitstätig sein musste; und mit dem sehr persistenten Narrativ, dass Kinder bzw. die Familie Privatsache seien, der Staat hier nichts zu melden habe. Dass sie damit in erster Linie nicht Privat-, sondern Frauensache waren, wurde einfach hingenommen.
Mit welchen Folgen?
Auf dieses Familienmodell der Nachkriegszeit – der Mann ist erwerbstätig, die Frau betreut die Kinder – wurden die Gesetze ausgerichtet. Den Preis dieses sehr patriarchalisch geprägten Familienbilds zahlen bis heute aber die Frauen. Sichtbar ist das etwa beim Besteuerungsmodell, das durch die gemeinsame Veranlagung ein zweites Einkommen unattraktiv macht, oder bei der Altersvorsorge. Die meisten Frauen sind finanzielle sehr viel schlechter gestellt im Alter. Dieses System schafft Hürden. Und es hat lange Zeit auch Investitionen in eine familienergänzende Kinderbetreuung verhindert – und tut es nach wie vor. Die Aufgabe wurde an Kantone und Gemeinden delegiert, die mal mehr mal weniger unterstützend waren. Jetzt stösst man an, weil zwischen den Ansprüchen der Wirtschaft – diese bräuchte dringend mehr gut qualifizierte Frauen –, dem traditionellen Familien- und Rollenbild und der Trägheit unseres politischen Systems Welten klaffen.
Sie sind berufstätig, als Nationalrätin zeitlich sehr eingespannt und Mutter. Wie bringen Sie das alles unter einen Hut?
Ich kämpfe mit den gleichen Herausforderungen, wie sie unzählige andere Familien auch haben. Und stosse an meine Grenzen. Mein Partner und ich pflegen bewusst ein egalitäres Rollenmodell mit einer klaren Aufteilung, wer wann für was zuständig ist. Damit ich, wenn ich die Verantwortung habe, voll und ganz für die Kinder da sein kann. Wobei ich insofern «Glück» habe, dass ich noch sehr kleine Kinder habe und während der Pandemie als Politikerin physisch weniger Abendsitzungen und -anlässe wahrnehmen musste. Zu Zeiten meines politischen Karrierebeginns zehn Jahre früher wäre das anders gewesen.
Welche Rolle spielt dabei das externe Betreuungsangebot?
Das ist enorm wichtig und toll – meine Kinder gehen zwei bis drei Tage in die Kita bzw. in den Kindergarten. Das ist eine Bereicherung für sie, weil sie dort auch pädagogisch gefördert werden, mit anderen Kindern Erfahrungen machen und Dinge in einem Umfang machen können, wie wir es ihnen so gar nicht bieten könnten.
Das klingt doch sehr gut.
Ja, aber es reicht eben nicht. Für viele Familien des Mittelstandes ist die Kinderbetreuung kaum erschwinglich. Bei vielen Familien in der Schweiz frisst die monatliche Kita-Rechnung einen beträchtlichen Teil ihres Einkommens weg. Im Schnitt 35 Prozent eines Einkommens. In keinem anderen Land der Welt müssen die Eltern einen so hohen Anteil ihres Verdienstes für die familienergänzende Kinderbetreuung aufbringen wie in der Schweiz. Die Schweiz muss ein Land sein, in dem sich Erwerbsarbeit auch für Familien der Mittelschicht und insbesondere für Frauen lohnt. Und es ist auch nicht die Regel in der Politik, dass es funktioniert. Politik findet in der Schweiz oft ausserhalb der Öffnungszeiten familienergänzender Institutionen statt. Es gibt auch keine fixen Abstimmungszeiten, die im Tagesablauf eingeplant werden können, wie es andere Parlamente kennen. Wir stimmen ab, wenn das letzte Traktandum durchdiskutiert ist. Ich bin ja auch noch Teilzeit angestellt und berufstätig. Ohne Grosseltern, welche alle Unregelmässigkeiten auffangen, wäre das gar nicht machbar. Es ist übrigens auch keine gute Qualität von Parlamentsdemokratie, wenn sie eigentlich nur von Personen wahrgenommen werden kann, die extrem flexibel sind oder grosse Unterstützung erhalten im privaten Umfeld. Das führt dann dazu, dass Bevölkerungsgruppen wie junge Eltern schlecht repräsentiert sind und es noch schwieriger wird, die Rahmenbedingungen für eine bessere Vereinbarkeit zu verändern.
Welchen Preis bezahlen Sie persönlich?
Das war meine freie Wahl. Aber ja, Sport, Freundschaftspflege, Freizeit und Schlaf sind alles sehr knappe Güter bei mir. Und auch beruflich kann ich längst nicht alles machen, was ich möchte oder vielleicht auch noch könnte. Aber das geht ja allen so, die Kinder haben. Wichtig ist für mich, dass meine Kinder wundervoll betreut und erzogen werden, und sie gedeihen prächtig dank stabilen Betreuungssituationen in- und ausserhalb der Familie. Und ich habe mich bewusst für diesen Weg entschieden, gerade auch für die politische Tätigkeit, weil ich für etwas kämpfen kann, das mir wichtig ist und das für dieses Land wichtig ist und auch für meine Kinder. Das gibt mir viel Kraft und motiviert mich. Ich habe massgeblich dazu beigetragen, dass in Bern Betreuungsgutscheine eingeführt wurden. Das hat zu einer erheblichen Entlastung für Familien geführt, auch wenn sie noch zu tief angesetzt sind, was zulasten des Mittelstandes geht. Darum engagiere ich mich auf Bundesebene für das Kita-Gesetz, damit wir endlich eine verlässliche und gute Infrastruktur erhalten.
Sie sprechen von Infrastruktur. Wie sähe diese konkret aus?
Wir benötigen eine verlässliche Kinderbetreuungsinfrastruktur, wie sie der Staat auch in anderen Bereichen anbietet. Und wir müssen sie auf jene ausrichten und bezahlbar machen, welche sie täglich benötigen, um ihrer Erwerbstätigkeit oder Ausbildung nachgehen zu können. Genauso wie die SBB ihr Zugnetz, Fahrplan und Preise auch auf die Pendlerinnen und Pendler ausrichtet und nicht für jene, welche ab und zu einen Wochenendausflug machen.
Wir müssen wegkommen vom Denken, dass Infrastrukturen aus Beton und Stahl bestehen. Wir haben in der Vergangenheit in Infrastrukturen investiert, die massgeblich dafür verantwortlich waren, dass dieses Land prosperieren und unsere Bevölkerung erwerbstätig sein konnte. Eine verlässliche und erschwingliche Kinderbetreuung ist die Infrastruktur, welche die heutige Arbeitswelt benötigt. Es geht um Betriebskosten, um Investitionen in Qualität bei Betreuung und in die Aus- und Weiterbildung des Personals, um angemessene Löhne. Empirische Studien belegen, dass ein qualitativ gutes Betreuungsangebot junge Eltern und insbesondere die Mütter dazu motiviert, ihre Berufstätigkeit aufrechtzuerhalten. Das Bundesgericht hat in Leiturteilen zum nachehelichen Unterhalt festgehalten, dass Frauen wirtschaftlich eigenständig zu sein haben – die lebensprägende Ehe gibt es nicht mehr, und der Bundesrat will die Witwenrente in dieselbe Richtung reformieren. Kurzum: Frauen müssen künftig noch viel stärker für sich selbst sorgen können, gerade wenn sie Kinder haben. Also müssen wir ihnen auch die Chance dafür geben, möglichst ohne Unterbruch erwerbstätig zu bleiben. Neben einer erschwinglichen Kinderbetreuungsinfrastruktur von hoher Qualität benötigen wir eine Elternzeit zu gleichen Teilen, damit die Frauen nicht mehr alleine das Risiko des Erwerbsausfalls tragen. Wir müssen Möglichkeiten schaffen, dass Eltern die familiäre Verantwortung und die Berufstätigkeit zu gleichen Teilen schultern. Andere Länder machen das vor, es wird höchste Zeit, dass die Schweiz aufschliesst.
Sie haben zwei Töchter. Was würden Sie ihnen mitgeben wollen, wenn sie erwachsen sind?
Dass sie ihrer Berufung nachleben und einfordern von sich selbst, dem Umfeld und der Politik, dass dies vereinbar ist mit einer Familie. Im Wissen darum, dass es nicht immer einfach ist. Und dass sie dafür kämpfen, dass sich die Dinge zum Bessern verändern.
«Das Narrativ hält sich hartnäckig. Es trifft aber gar nicht zu: Kinder waren in der Vergangenheit stets Sache der Frauen. Sie bezahlen den Preis in Form von tiefen Einkommen und geringer Vorsorge indem sie ihre berufliche Entfaltung zurückstecken. Es ist Zeit für verlässliche, erschwingliche Kinderbetreuungsinfrastrukturen.»