Der Terminkalender von Anna Mattsson ist gut gefüllt: Neben ihrem Job als Partnerin bei McKinsey, in einer international tätigen Unternehmensberatung, ist die Mutter zweier Kinder seit Mai 2023 auch Vorstandspräsidentin von Advance. Der Schweizer Wirtschaftsverband setzt sich aktiv für Geschlechtergerechtigkeit im Berufsleben ein. Ein Anliegen, das der gebürtigen Schwedin am Herzen liegt. Als arbeitende Mutter wäre sie oft gerne überall gleichzeitig gewesen – um ihrem Anspruch an sich selbst zu genügen und in jedem Bereich ihr Bestes zu geben.
Fragt man Anna Mattsson, wann sie das erste Mal mit der Frage «Kind oder Karriere» konfrontiert war, lacht sie. «Ehrlich gesagt war das erst nach meiner Ankunft hier in der Schweiz, im Anschluss an einen Geschäftstermin.»
Anna wurde in Schweden geboren und ging in Deutschland zur Schule. Ihre berufliche Karriere begann in London, bis es sie vor über einem Jahrzehnt nach Zürich verschlug. Im Ausland stellte sich weder für sie noch ihren damaligen Mann die Frage, ob sie nach der Geburt ihres ersten Kindes zuhause bleiben sollte. «Das ist in Grossbritannien einfach nicht üblich. Daher wurde man auch nicht schräg angeschaut, wenn das Kind durch Dritte betreut wurde und man als Mutter arbeiten ging», berichtet Anna. In Schweden arbeiteten ihre beiden Elternteile, während die heranwachsende Anna bei einer Tagesmutter war. Das funktionierte gut und prägte ihr Weltbild. In der Schweiz sei sie allerdings bereits wenige Monate nach ihrer Ankunft auf ihre Berufstätigkeit angesprochen worden. Es sei an einem Freitagabend gewesen, nach einem Geschäftstermin. Ein Klient habe mitgehört, wie sie sich mit Kollegen über ihr Kind unterhielt. «Er fragte mich direkt, warum ich nicht bei meiner Tochter sei. Ich entgegnete, dass ihr Vater auf sie schaue. Im Verlauf des Gesprächs stellte sich heraus, dass er gar nicht diesen konkreten Moment meinte, sondern sich fragte, warum ich überhaupt arbeitete.» Bei der Erinnerung an diese Unterhaltung muss sie immer noch den Kopf schütteln.
Entscheidungen gehören dazu
«In meinem Beruf in der Strategieberatung musste ich, zumindest bis vor der Pandemie im Jahr 2020, viel reisen. Das habe ich immer mit voller Überzeugung und Leidenschaft gemacht. Ich bin gerne beim Klienten, schätze den persönlichen Austausch», sagt Anna. Dennoch stellte sie sich nach der Geburt ihrer ersten Tochter die Frage, ob sie direkt wieder in eine Rolle zurückkehren sollte, die ihr zeitlich so viel abverlangen würde. Sie entschied sich vorerst für eine Tätigkeit im Büro. Dort waren die Arbeitszeiten vorhersehbar, Anna war flexibler. Ihr Plan war, nach einem Jahr wieder in eine Funktion mit Kundenkontakt zurückzukehren. «Ich merkte aber schnell, dass mir der Teil der Arbeit fehlte, der mir am meisten Energie gab», stellt sie rückblickend fest. «Und so kam ich schon nach sieben Monaten wieder zurück in die aktive Projektbetreuung.»
Heute sind ihre Kinder 10 und 12 Jahre alt. Als die beiden noch viel jünger waren, habe Anna auch in Erwägung gezogen, ihr Pensum zu reduzieren und Teilzeit zu arbeiten, gibt sie zu. «Um mehr Zeit für die beiden zu haben. Doch letztendendes musste ich ehrlich zu mir selbst sein. Ich hätte zwar offiziell eine Halbtags-Anstellung gehabt. Aber ich kenne mich. In der Praxis hätte ich wahrscheinlich Vollzeit gearbeitet – zu einem geringeren Lohn», lacht sie.
Man kann nicht überall sein
Als arbeitende Mutter hatte Anna anfänglich trotzdem oft Sorgen. «Mütter sollten aber offen ansprechen können, dass sie sich manchmal in einem emotionalen Zwiespalt befinden», stellt sie fest. «Ich hatte im Geschäft ein schlechtes Gewissen meinen Kindern gegenüber. Und wenn ich zuhause war, hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich das Gefühl hatte, meine berufliche Pflicht zu vernachlässigen.» Ihr half die Einsicht, dass niemand immer alles perfekt machen kann – auch nicht als Mutter. «Und das sollte man offen ansprechen. Oft werden wir mit Rollenbildern von Müttern konfrontiert, die als absolute Überflieger präsentiert werden. Dabei sind das auch nur Menschen.» Ihre Empfehlung: Sich trauen, Hilfe anzunehmen und sich nicht scheuen, gewisse Aufgaben zu delegieren. Besonders klar wurde ihr das, als sie nach einem langen Arbeitstag um Mitternacht anfing, Cupcakes für den Geburtstag ihrer Tochter zu backen. Bis mitten in der Nacht war sie in der Küche und dekorierte die kleinen Küchlein in verschiedenen Farben. «Als meine Tochter am nächsten Morgen wach wurde, war ich selbst noch total müde. Ich konnte den Augenblick mit ihr gar nicht richtig auskosten. Ob das Topping der Cupcakes rot oder blau war, war ihr als Einjähriger natürlich egal. Da habe ich mir geschworen: Ab jetzt kaufe ich Kuchen und geniesse die Zeit mit ihr», erzählt sie.
Familie ist Teamwork
Dass in der Schweiz in der Regel die Frauen sind, die nach der Geburt eines Kindes ihre professionellen Ambitionen zurückfahren, ärgert die Expertin für Unternehmensfusionen und -übernahmen. «Trotz einer guten Ausbildung entscheiden sich viele dafür, erst einmal eine berufliche Pause einzulegen. Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels sollte es mehr Bemühungen geben, diese Talente wieder in den Beruf zu holen – oder mit flexiblen Angeboten gar nicht erst zu verlieren», fordert sie. Damit teilt sie eine Erkenntniss des Netzwerks Advance, für das sich Anna engagiert, und welches zudem auf das wirtschaftliche Potenzial besserer Einbindung von Frauen in die allgemeine Arbeitswelt sowie in Führungspositionen hinweist. Dass sich die Firma, für die Anna hauptberuflich tätig ist, in diesem Aspekt konsequent und sogar auf doppelte Weise einsetzt, hat Anna von Anfang an begeistert. «Wir publizieren zahlreiche Studien zum Thema Frauen in der Arbeitswelt. Und natürlich werden Vielfalt und Inklusion als Werte bei uns tagtäglich gelebt, zudem werden spezielle Programme für Mitarbeiterinnen angeboten.»
Was das private Umfeld betrifft, rät Anna jungen Paaren, sich vor der Familiengründung darüber einig zu sein, wie das Leben mit einem Kind aussehen soll. Wer arbeitet und in welchem Umfang? Wer kümmert sich um Wäsche? Wer um den Einkauf? Wer kocht? «Fürs Familienleben gibt es keinen Kurs, der einen vorbereitet. Gemeinsame Planung zahlt sich für alle aus. Sonst entsteht viel Konfliktpotenzial», sagt sie. Sie selbst versucht, ihren Kindern beizubringen, dass jeder die gleichen Aufgaben im Haushalt und im Familienleben hat. «Bei uns gibt es nichts, was nur die Mädels oder nur die Jungs machen. Jeder packt
mit an, mein Sohn genauso viel wie die Tochter.»
Für sich selbst in die Zukunft blicken
In den letzten Jahren hat sich in der Schweiz aus Annas Sicht viel verändert. «Ich sehe, dass sich auch junge Väter die Frage nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf stellen. Männer übernehmen mehr Verantwortung für ihre Kinder. Niemand hebt die Augenbrauen, wenn dies der Fall ist», betont sie. Sie wünscht sich, dass beide Eltern sich den Freiraum nehmen können, Eltern zu sein. Und noch ein weiterer Punkt ist ihr sehr wichtig: Die Tragweite einer Entscheidung gegen den beruflichen Wiedereinstieg von Müttern. Kurzfristig mag dies zwar als ein sinnvoller Schritt erscheinen. Oftmals reicht das zweite Gehalt nämlich kaum aus, um die Kosten für eine externe Betreuung zu decken. Langfristig aber wirkt sich dies negativ auf die finanzielle Situation von Frauen aus – und zwar deutlich zu ihrem Nachteil. Sie verdienen in ihrem Arbeitsleben nicht nur weniger als Männer, sondern nehmen auch starke Einbussen in Bezug auf ihre Pensionsansprüche in Kauf. Eine Teilzeittätigkeit verringert zudem die Chance auf einen Karrieresprung und finanzielle Eigenständigkeit. «Jeder sollte die Chance haben, Vollzeit zu arbeiten», fasst Anna zusammen.
«Mütter sollten offen ansprechen können, dass sie sich manchmal in einem emotionalen Zwiespalt befinden.»